An dem frühen Samstagnachmittag treffen wir uns wieder um 13:00h am bekannten Startpunkt unserer Touren. Ein kühler östlicher Wind treibt die Wolkenberge immer wieder auseinander, um dem breitflächigen Gleißen der Herbstsonne Raum zu geben. An Tagen mit Hochdruckeinfluss wie diesen, und zu dieser Zeit, entscheiden sich die Kraniche zu fliegen. V-Formen bildend und Trompetenrufe vom Himmel ausstoßend, ziehen sie in das winterliche Exil. Ein herbstliches Naturphänomen mit dem ersten, leisen Anruf des nahenden Winters.
Aber heute bleibt der Himmel still.
Wir sind: Evelyn, Michael und Ralf. In Abgrenzung zu unseren vergangenen, gemeinsamen Ausfahrten, stehen hier drei Gravelräder in der Form eines Dreiecks zusammen. Vor der ersten gemeinsamen Offroad-Ausfahrt mustern wir gegenseitig das Radmaterial.
„Ich freue mich auf die Tour mit dem Cross-Rad“, meint Ralf, als sein rechter Schuh in die Klickpedale rastet. Michael hat Ideen für zwei Touren mitgebracht. Er stellt die erste vor. Während der Erzählung addiert Ralf die bevorstehenden Kilometer mit. Bei der Visualisierung des äußersten Punktes der Tour, den Michael gerade als irgendwo hinter dem Mittelgebirgshöhenpunkt „Knoten“ lokalisiert (und das mit dem Cross-Rad!), beendet Ralf kopfschüttelnden mit einem Seufzer das Zuhören: „Die zweite Tour, bitte!“
Wir starten in zwei Gruppen. Michael und Ralf nehmen als Prolog den geschotterten Weg hoch nach Braunfels, Evelyn winkt ab: „Im oberen Teil ist mir das auf diesem Untergrund zu steil!“ Sie nimmt die Hauptstraße bis zum Parkplatz in der Attenbach-Kurve; bei Michael und Ralf steigen schon mal die Pulswerte auf dem immer steiler werdenden Schotterweg bis zum Ortsbeginn Braunfels‘. Wir treffen dann Evelyn, die bereits am Parkplatz wartet. Hier beginnt das erste Teilstück über mäandernde Waldwege nach Altenkirchen, dessen Schwierigkeitsgrad Michael das Etikett „leicht zu bewältigen“ verleiht. Mit anderen Worten: Etwa sieben Kilometer mit Steigungsgraden zwischen fünf und neun Prozent. Wir fräsen uns über Waldwege nach oben, mit zum Teil tief eingegrabenen Spurrillen, Grußbotschaften von Waldflurförderfahrzeugen, abgewetzten Steinen, die sich aus der Erde drücken und feuchte und glatte Moose, die den Mittelteil der Wege besiedeln. Kurz: Es ist Arbeit, harte Arbeit und ein Gefühl an eingeschränkter Vorwärtsbewegung, als träten Tentakel aus dem Erdreich, nach unseren Speichen greifend, um uns an der Weiterfahrt zu hindern. Am höchsten Punkt angekommen, dem Waldweg zwischen Braunfels und Altenkirchen, bewegen wir uns wellenartig in Richtung Süden. Zur rechten gähnt das tiefe Loch des Steinbruchs von Philippstein, wir überqueren die Hauptstraße nach Altenkirchen und stoppen an einem Waldstück auf einer Anhöhe.
Hier teilen wir uns erneut. Evelyn fährt über ein asphaltierten Flurweg zum Möttauer Weiher, Michael und Ralf cruisen über einen Single-Trail quer durch ein steil abfallendes Waldstück zum gleichen Ziel. Ein Riesenspaß. Wir umrunden den heilignüchternen (so, jetzt ist auch Friedrich Hölderlin endlich im Blog) Weiher, passieren den Heidehof Sippel und rollen durch eine wundervolle Landschaft, deren Wechsel aus Waldstücken und Wiesenflächen uns fasziniert, nach Ernsthausen. Hier sind wir gezwungen, die Hauptstraße bis Essershausen zu fahren, um dann den asphaltierten Radweg bis zum Gebäudekomplex der Firma Arnold nutzen zu können. Inzwischen haben sich die Sonne zurückgezogen, und die Wolken zu einer breiigen Masse verdichtet.
An einem Punkt rollt Evelyn neben das Mérida Crossrad Ralfs und fragt: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Gravel-Bike und einem Cross-Rad?
Vor die Frage dieser Differenzierungsleistung gestellt, erfassen Ralf dazu einige zirkulierende Gedanken: „Ist nicht, abgesehen von ein paar technischen Details, der Namen der Sportgeräte die prominenteste Unterscheidung?“ Übersetzen wir einfach, kurz und frei die Begriffe aus dem Angelsächsischen. Ein Schotter-Rad zum einen; und ein “ Kreuz–und–quer–durch – die–Landschaft–fahren“–Rad. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist es noch als „Querfeldein“-Rad sperrig, aber treffend beschrieben und bezeichnet worden.
Sicher ist das semantische Wortklauberei, denkt sich Ralf, um sich an einen letzten Gedanken zu hängen, der um das Gewicht eines Querfeldein-Rades kreist: „Leicht muss es schon sein, leichter als ein Gravel-Rad!“ und Erinnerungsfetzen treten aus seinem Langzeitgedächtnis hervor. Das Bild von Klaus-Peter Thaler steigt vor seinem geistigen Auge auf, als er auf einem, durch tagelange Regengüsse in ein Matschfeld verwandelten Parcours, sein Rad weitestgehend ‚schulternd‘ zum WM-Titel trug.
Evelyn wartet noch immer auf die Antwort ihrer gestellten Frage.
„Ich glaube, es ist der Radstand und die Geometrie des Rahmens, der beide Typen unterscheidet“, antwortet Ralf, mehr aus dem Kopf als aus dem Bauch, weil er weiß, dass Stephan der kompetentere Beantworter der Frage ist, wenn er dann wieder in der Gruppe ist.
Michael führt die kleine Gruppe als „capitaine de route“ an. Wir rollen auf dem Lahnradweg nach Weilburg. Der Fluss wirkt still, stiller als sonst. Die Boote sind verschwunden, ebenso die Flaneure des Sommers, deren Pulke die Passage für Radsportler oft in einen Slalom verwandelten. Die Tour ist im letzten Abschnitt, an der Lahn entlang, über Biskirchen, Stockhausen, den Lahnbahnhof nach Burgsolms. Für Evelyn wartet dort „das Schönste an diesem Nachmittag“, wie sie im Vorfeld schrieb, „das Kaffeetrinken bei Schäfer“.
Das klingt gut. Nun ist es aber gekommen, wie es eben kommen musste. Michael hat kurz vor Löhnberg noch eine ganz tolle Idee, sozusagen ein später Kompromiss zwischen der Tour 1 (schwer) und der Tour 2 (leicht). Vor Ahausen soll es am Grundbach hinein in den Wald gehen, dann taucht irgendwo der Briebach auf, es geht weiter hoch in Richtung Weilburger Tiergarten, dann über Hirschhausen und Drommershausen wieder zurück ins Lahntal. An dieser Stelle bedient sich Ralf am Sprachrepertoire Silkes, die heute leider nicht dabei ist, mit den finalen Worten: „Ich bin draußen“. So splittet sich die Gruppe zum dritten und letzten Mal auf, dieses Mal anders variiert. Evelyn und Michael begeben sich, ––Achtung! Ironiezone: auf die Strafrunde oder ziehen einen Triumphbogen —, es ist immer eine Frage der Perspektive.
Ralf zieht es bereits in Löhnberg zu Schäfer. Dort kennt man seine Bestellung: „Ein mittlerer Cafe Créme mit einem Schuss Milch, keine Kaffeesahne aus diesen Plastikfingerhüten, und einen Rübli-Kuchen“; Evelyn und Michael schließen ihre Tour etwas später bei Schäfer in Burgsolms ab. (Ralf)